"Schmierst Du mir meine Stulle?"
Der diakonische Ansatz in der KiTapastoral
Zehn Kitas gehören zur katholischen Pfarrei St. Nikolaus in Wesel, ca. 700 Kinder gehen dort täglich ein und aus. Sie kommen aus unterschiedlichen Lebenssituationen. Ein Fünftel von ihnen ist von Armut betroffen. Ab September 2015 werden wir diesen Kindern ein Frühstück anbieten, gesund und kostenlos.
Beobachtungen aus dem Kitaalltag
Morgens, 8 Uhr: Eltern ziehen ihren Kindern die Jacken und Schuhe aus, Kinder begrüßen und verabreden sich zum Spielen, Abschiedsdramen spielen sich ab. Die Mama von Celine findet im Fach eine Nachricht von der Kita: „Bitte denken Sie an den Beitrag für das Mittagessen", steht dort. Celines Mama hat das Geld nicht dabei. Sie weiß nicht, wo sie es hernehmen soll. Auf dem Weg nach draußen begegnet sie der Kita-Leiterin. „Gut, dass ich Sie treffe! Haben Sie die Nachricht bekommen? Ich weiß ja, dass Sie nicht so viel Geld haben aber wir müssen das wirklich einsammeln oder Celine kann nicht mehr am Mittagessen teilnehmen. Ich kann Ihnen auch die Telefonnummer von der Pfarrei geben. Dann kann die Caritas Ihnen helfen."
Eine andere Kita, montags. Zwei Kinder sind gerade angekommen. Als Erstes stürmen sie in den Frühstücksraum. Ein eigenes Frühstück haben sie nicht dabei, aber in der Kita gibt es Müsli, Knäckebrot und Obst. Das wissen sie genau. Und sie werden den größten Teil des Morgens im Frühstücksraum verbringen, bei Müsli, Knäckebrot und Obst. Zu Hause sind sie am Wochenende nicht satt geworden.
Zwanzig Prozent sind von Armut betroffen
Die beiden Beobachtungen illustrieren eine Situation, auf die der Pfarreirat von St. Nikolaus in Wesel in einer Sozialraumanalyse zur Entwicklung des lokalen Pastoralplans gestoßen ist. In Wesel sind 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen von Armut betroffen. Diese Zahl war für viele in der Pfarrei überraschend und erschreckend. Ein Sprichwort sagt: Voller Bauch studiert nicht gern für die Kinder gilt vielmehr: Ein leerer Bauch studiert erst recht nicht. Kürzlich hat die Bertelsmann-Stiftung in einer Untersuchung den Zusammenhang zwischen Armut und der Entwicklung von Kindern analysiert. Das Ergebnis: Schon vor Beginn des Schuleintritts sind Kinder, die in Armut aufwachsen, in ihrer Entwicklung deutlich benachteiligt. Hinzu kommt, dass wir nach wie vor in einem Land leben, in dem die soziale Herkunft einen großen Einfluss auf die Schullaufbahn hat. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie grundlegend die Frage der gesunden Ernährung für die Entwicklung der Kinder ist. So entstand die Idee, in unseren Kitas ein kostenloses und gesundes Frühstück für alle Kinder anzubieten.
Die Finanzierung stemmen – Kooperationspartner finden
Für die Umsetzung des Projektes sind viele interne Fragen zu klären Organisationsabläufe, Hygiene- und andere Vorschriften, Qualitätsstandards für das Frühstück, Ausstattung der Kitas, personelle Ressourcen und anderes. Die zentrale Frage ist, wie das Frühstück finanziert werden soll. Wenn wir monatlich zehn Euro pro Kind für das Frühstück kalkulieren, kommen wir auf 7000 Euro im Monat. Das ist eine große Summe, die von der Pfarrei nicht übernommen werden kann. Wir versuchen, lokale Kooperationspartner zu gewinnen. Lebensmittelhändler aus der Region haben ihre Bereitschaft bekundet, die Kitas zu beliefern. Auch verschiedene Firmen und Privatpersonen haben schon angekündigt, das Projekt mitzufinanzieren. Um möglichst viele Menschen an der Finanzierung zu beteiligen, werden wir unter dem Motto „Schmierst Du mir meine Stulle?" Frühstückspatenschaften einrichten. Eltern, Großeltern und alle, die das Projekt unterstützen möchten, können einem oder mehreren Kindern „die Stulle schmieren". Ehrenamtliche Helfer sollen die Kitas bei Einkäufen und der Zubereitung unterstützen.
Solidarität als Grundhaltung
Mindestens genau so wichtig ist es, eine Haltung zum Thema Armut in der Kita zu entwickeln. Wir wollen eine gemeinsame Lösung für alle Kinder in allen unseren Kitas schaffen, ohne einzelne Familien oder bestimmte Einrichtungen als „bedürftig" oder „Arme-Leute-Kita" zu stigmatisieren. Damit setzen wir auf Solidarität als Grundhaltung und auf die Bereitschaft der Menschen in Wesel, Kindern zu helfen. Vielfach sind die Reaktionen darauf positiv. Intern besteht die größte Herausforderung darin, die Bereitschaft zur Solidarität so zu erhöhen, dass die Einrichtungen bereit sind, sich auf die organisatorischen Veränderungen einzulassen. Neben den vielen positiven Reaktionen gibt es vor allem zwei Widerstände: Warum sollen wir das bei uns machen wir haben das Problem ja nicht? Warum sollen wir die Eltern aus ihrer Verantwortung entlassen?
Der heilige Nikolaus als Vorbild
In unserem Projekt lassen wir uns leiten von zwei Grundhaltungen. Wir wollen getreu der biblischen Überlieferung „die Kinder in die Mitte stellen" (Mk 9, 36) und uns gleichzeitig an unserem Pfarrpatron, dem Hl. Nikolaus, orientieren. Der Schutzpatron der Kinder hat in zahlreichen Legenden immer wieder unkompliziert und diskret Menschen in Not geholfen. Dem Vater, der die Mitgift für seine drei Töchter nicht aufbringen konnte, hat er Gold durchs Fenster geworfen und die Kinder so vor der Prostitution bewahrt. In der Legende erfahren wir nichts über den Grund der Armut. Nikolaus konfrontiert sie nicht mit der Situation, er macht die Familie nicht zu Bittstellern oder zu Empfängern von Almosen. Er beschenkt sie in einer Weise, dass sie ihr Gesicht wahren können.
Viele Vorteile
Wir konzentrieren uns mit dem Frühstücksprojekt daher auf die Lebensbedingungen der Kinder. Wir sehen für die Kinder viele Vorteile durch das Frühstück.
• Die Familiensituation wird entlastet, da sowohl das Mitgeben als auch das Finanzieren eines Frühstücks entfällt abgesehen von freiwilligen Spenden.
• Die Kinder bekommen ein gesundes, ausgewogenes und abwechslungsreiches Frühstück.
• Die Kinder lernen vielfältige Nahrungsmittel kennen. Erfahrungen zeigen, dass Kinder beim gemeinsamen Frühstück Dinge essen, die sie zu Hause niemals anrühren würden.
• Die Kinder lernen beim gemeinsamen Zubereiten, Tischdecken usw. den Umgang mit Lebensmitteln kennen und erfahren eine Kultur des Genießens.
Auftrag zur Elternbildung
Und wie ist es mit der Verantwortung der Eltern? Das Klischee ist bekannt: Geld für Zigaretten, Smartphones und große Fernseher ist übrig, aber nicht für das gesunde Essen der Kinder. Natürlich ist auch hier ein Auftrag für die Kitas im Sinne der Familienbildung zu erkennen. Die Frage nach der Verantwortung der Eltern hat einen anderen Fokus und wird an anderer Stelle bearbeitet werden müssen. Den Kindern, die montags hungrig in die Kita kommen, nicht zu helfen, weil nicht alle Hintergründe und Zusammenhänge aufgearbeitet und geklärt sind, entspricht nicht unserem christlichen Selbstverständnis.
Martin Bußmeier
Pastoralreferent
St. Nikolaus Wesel
martin.bussmeier@sanktnikolaus-wesel.de